Klassentreffen – Mumienparty 07.05.2011

Das war der erste Gedanke nachdem ich das Einladungsschreiben geöffnet hatte. Muss das sein? 43 Jahre nach Schulabschluss. Nein Danke!

„Der Abituriententag (Die Geschichte einer Jugendschuld).“ Dieser Roman des Schriftstellers Franz Werfel kam mir in den Sinn. Oft hatte ich früher dieses kleine Taschenbuch gelesen und über den Inhalt nachgedacht.*

Ich legte die Einladung zum Altpapier. Eine Absage muss ich noch höflich formulieren und dem Organisator zukommen lassen. So mein Entscheidung.

Dann rief an einem Sonntag im April meine ehemalige Klassenkameradin Gertrud an. „Ob ich auch zum Klassentreffen kommen könnte. Sie würde sich freuen, mich bei dieser Gelegenheit zu sehen.“ Nach 43 Jahren!

„Sie sei Sport-Gymnastik- und Tanzlehrerin. Hätte noch ihre blonden Haare und den Pferdeschwanz wie einstens.“ Ich fischte die Einladung zum Klassentreffen wieder aus dem Altpapier heraus. Die Feuerzangenbowle ersetzte den Abituriententag. **

Sigurd, der Organisator dieses Klassentreffens formulierte es in seiner Einladung so:

„Liebe Freunde,

es ist schon ewig lange her, dass wir in großer Runde beisammen waren. In der Zwischenzeit haben viele von uns ihre große Liebe gefunden, Kinder großgezogen, sich im Berufsleben bewiesen, kleine und große Welten erobert, dabei Träume gelebt oder platzen sehen, Glück erfahren und auch so manches Leid ertragen. Und dies, jeder auf seine spezielle Art.

Bestimmt reichlich Stoff für einen spannenden und unterhaltsamen Nachmittag und Abend. Ich freue mich jedenfalls schon sehr darauf.“***

Das Bärenschlössle mit seinen Seen im Stuttgarter Rotwildpark war der Ort des Klassentreffens. Es war ein wunderschöner Samstag im Mai mit herrlichstem Sommerwetter.

Kaffee und etliche Torten und Kuchen waren im Obergeschoss des Schlösschens aufgereiht. Auf einer Projektionswand erschien eine gut zusammengestellte Photographiensammlung aus den längst vergangenen Tagen unserer Schulzeit.

50 ehemalige Schülerinnen und Schüler aus damals 2 Parallelklassen sind gekommen. Dazu noch 3 weishaarige Lehrer. Keine Mumien waren anwesend! Die fröhliche Gesellschaft war putzmunter. Alle modisch, aber manchmal auch auffallend bekleidet. Waldorfschüler!

Waldorfschüler?! Und deren Berufe? Pädagogen, Mediziner, Graphiker, Designer, Theologen, Juristen. Wenig Ingenieure und Techniker. Zwei Beamte in Ministerien und ein Betriebswirt waren die Ausnahmen.

Nur vier der anwesenden männlichen Mitschüler waren bei der Bundeswehr oder im Ersatzdienst. Verlorene 18 Monate oder eine positive Lebenserfahrung?

Nun die Überraschung! Nach Kaffee und Kuchen erfuhr ich die Biographien der Anwesenden. Ohne eine festgelegte Reihenfolge erzählten die Ehemaligen ihren bisherigen Lebenslauf. Sie erzählten alles, sowohl die positiven Seiten als auch die persönlichen Abstürze, stehend vor der Corona und alle mit durchwegs guter Rhetorik.

Eine menschliche Offenheit wurde hier gelebt, die ich so bisher nie erfuhr.

Als besonderes Beispiel sei mein Klassenkamerad Lucian B. genannt. Nach der Schule ist er in die Berliner Drogen-Szene abgestürzt. Er hat gekämpft und sich wieder gefunden. Er ließ sich zum Psychotherapeuten ausbilden. Neben seiner eigenen Praxis ist er noch Drogenberater an Schulen und kirchlichen Einrichtungen. Er hat sich seinen Lebensweg erkämpft.

Lebenswege? Fast keiner der Anwesenden hatte einen „geraden Lebensweg.“ Gerade Lebenswege sind: Schule, Lehre, Beruf, Familie oder Schule, Studium Beruf, Familie.

Nach Schulabschluss und auf allen möglichen Umwegen hat doch jeder der Anwesenden sein berufliches und privates Ziel erreicht. Ob dabei ein jeder glücklich und zufrieden ist? Dies blieb offen. Darüber sprach man dann doch nicht.

Das Klassentreffen endete nach einem exzellenten kalt-warmen Buffet zusammen mit Bier, Wein und Sekt.

Waldorfschüler sind meist eckig und kantig. Ja wir sind sehr eigenwillige Persönlichkeiten! Aber alle mit einer großen Liebe zur Schöpfung und den Glauben an Gott, unabhängig davon welcher Konfession man angehört. Waldorfschüler zeichnen sich auch durch eine gute Allgemeinbildung aus. Darauf sind wir stolz!

An diesem Klassentreffen wurde natürlich auch der verstorbenen Lehrer und schon verstorbenen Mitschüler gedacht. Da waren bei vielen Tränen in den Augen. Auch bei mir.

Rolf-Dieter Lembeck v/ Famulus AH X AV! OECONOMICA et AH TV! STAUFIA

* „Der Abituriententag (Die Geschichte einer Jugendschuld ).“ Roman von Franz Werfel (1890 – 1945).

Fischer Bücherei Januar 1968.

** „Die Feuerzangenbowle.“ Roman von Heinrich Spoerl (1887 – 1955).

DTV-Großdruck. 2. Auflage Juli 1986.

***Einladungstext zum Klassentreffen am Samstag, den 07.05.2011.

Sigurd R. April 2011.